Donnerstag, 20. Juni 2024

Von Cassetten, LPs und analogen Kameras: Haptik und Nostalgie

Ich besitze eine umfangreiche Sammlung von Langspielplatten aus den Musikgenres Jazz und Klassik, die ich seit einigen Jahren peu à peu über die üblichen Plattformen Discogs und ebay verkaufe. Analoge Kameras aus der Zeit seit den 80er Jahren bis zum Sieg der digitalen Photographie haben bei mir - in überschaubarer Anzahl - eine neue Heimat gefunden. Die Anwesenheit dieser Gegenstände schärfte meine Wahrnehmung von nostalgischen Trends. Gestern stieß ich auf einen neuen, den ich so nicht erwartet hätte.

Audio-Kassetten als Sammelgut?

Wim Wenders hat mit seinem Film "Perfect Days" 2023 einen Nerv des Publikums und der Festival-Jurys getroffen. Mit seinem Hauptdarsteller Kôji Yakusho, der den Tokioter Toilettenreiniger Hirayama verkörpert, schuf Wenders eine Ikone des armen, aber glücklichen weltlichen "Zen-Meisters" in einer schroffen, neonbeleuchteten urbanen Landschaft. Es ist viel geschrieben worden über den Film, deshalb hier filmkritisch nicht mehr darüber. Es geht hier nur um zwei Details in diesem Meisterwerk.



                               Kôji Yakusho als Hirayama in "Perfect Days" von Wim Wenders

In diesem Film gibt es eine Szene, in der der junge Kollege Hirayamas ihn in einen Laden für Gebraucht-LPs führt und ihm beweist, dass die Audio-Kassetten, die Hirayama in seinem Daihatsu-Minivan mit sich herumfährt, viel Geld wert sind. Das erstaunt Hirayama, der seine Kassetten aber nicht verkaufen will, und es erstaunte auch mich, denn inmitten all der nostalgischen Gegenstände, die ich verkaufe, ignorierte ich seit vielen Jahren völlig, dass ich noch einen Bestand bespielter Audio-Kassetten habe. 


                               Plattenladen in Tokyo

Wieso habe ich Kassetten nie als Sammelgut begriffen, und wieso bin ich andererseits sicher, dass auch analoge Kameras aus den von vielen verspotteten letzten Jahren der Produktion elektronisch "aufgepimpter" Spiegelreflexkameras in absehbarer Zeit "trendy" sein werden?


                        werden in diesem benutzten, selbst gestalteten Zustand nicht gesammelt. Wegwerfen?

Die Werte der Audio-Kassetten waren: preiswertes Speichermedium, transportabel, von eigener Hand graphisch gestaltbar, in ihren Inhalten individuell gestaltbar (Playlists) und wegen dieser Möglichkeiten der Individualisierung als Geschenke geeignet. Darüber ist auch schon viel geschrieben worden, und die Streamingdienste werden sich viele Gedanken dazu machen, wie man den Akt der Schenkung "junger Mann schenkt seiner Angebeteten eine eigens für sie erstellte Playlist" mit der gleichen Bedeutungsschwere versehen kann wie in den 70ern und 80ern die Überreichung einer liebevoll gestalteten Audio-Kassette.

Die Nachteile der Audio-Kassette waren schwerwiegend: Der Aufwand zur Erreichung einer akzeptablen Klangqualität war erheblich. Ich erinnere mich daran, dass ein Freund mit einem sehr teuren Nakamichi-Cassettendeck versuchte, die gleiche Klangqualität zu erreichen wie mit seiner Revox-Bandmaschine. Der Geldeinsatz war hoch, die Revox war unschlagbar. Der Walkman führte im Widerstreit von Beweglichkeit (überall diskret hören) und mangelnder Tonqualität wenig später dazu, dass mehrere Generationen eine Akzeptanz von begrenzter Klangqualität entwickelten. Die Mechanik von Audio-Kassetten war fragil, und das gemeinsame Auftreten von Kassetten und Bic-Kugelschreibern, die zum Aufwickeln verhaspelter Kassettenbänder benutzt wurden, war eine von der Industrie ungeplante, aber bei den Verbrauchern willkommene Symbiose. Fragile Mechanik ging zudem mit einer Haptik zusammen, die sich auf Dauer gegen einen zunehmend plastikfeindlichen Zeitgeist nicht durchhalten ließ. Erst verschwanden die Kassetten mit ihren Plastikhüllen, dann wurden CD-Hüllen aus dem gleichen Material - die sogenannten Jewel-Cases - durch Karton ersetzt. Es fehlt eigentlich nur noch eine grundlegende Änderung der sich noch unangenehmer anfühlenden DVD-Verpackungen, um vor dem Zeitgeist diese zu sehr nach den verderbten Konsumentenjahren der 80er und 90er anmutenden Relikte zu entfernen.

Pappe und Vinyl - Materialien der Nostalgie

Die wachsende Gemeinde der Liebhaber von Vinyl-Langspielplatten ist relativ jung, sehr kenntnisreich und pingelig. Wage es niemand, auf der großen Verkaufsplattform Discogs eine LP mit einer falschen Pressungsvariante anzupreisen, also etwa eine deutsche Nachpressung einer LP des amerikanischen Labels Blue Note aus den 80er Jahren als eine amerikanische Pressung der 60er in den Verkauf zu stellen. Er würde schnell entlarvt und - im mildesten Fall - ermahnt werden. Eine LP eines bekannten amerikanischen Jazzmusikers, sagen wir Miles Davis, kann es seit der Erstpressung in den 60er Jahren locker auf 50 und mehr (legale) Nachpressungen aus verschiedenen Ländern und Jahrzehnten bringen. Ein uninformierter Laie hätte Schwierigkeiten, die LP, die er zufällig in den Händen hält, als eine bestimmte Pressung zu identifizieren. Das gilt übrigens nicht nur für LPs aus der Frühzeit der 33 rpm-Scheiben, sondern auch für solche, die in den letzten Jahren vor dem Siegeszug der CD herauskamen. Eine britische Pressung einer LP der Gruppe "The Cure" ist nur durch winzige Details von einer deutschen Pressung aus dem gleichen Jahr zu unterscheiden, wechselt aber für viel mehr Geld den Besitzer. LPs werden mit der gleichen Inbrunst gesammelt wie früher Briefmarken und legen dem Besitzer und Liebhaber nicht die Bürde um den Hals, mit umweltfeindlichem Plastikmaterial zu tun zu haben, sondern mit Pappe, Papier (für Außen- und Innenhüllen) und einer Scheibe aus Polyvinylchlorid, die mit Feinfühligkeit behandelt werden will und sattschwarz glänzt wie die Lakritzschnecken von Haribo. Haptisch und in jeder Weise sinnästhetisch sind LPs eine andere Welt als Kassetten, so wie ein Alfa Romeo Spider zwar die gleiche Funktion erfüllt wie ein Daihatsu Cuore, nämlich Menschen von A nach B zu befördern, aber in seiner emotionalen Wirkung und Wertschätzung von einem anderen Stern kommt.




                               heiß begehrte Jazz-LP aus den frühen 60er Jahren

Analog und trotzdem elektronisch

Die wachsende Nachfrage nach Analogfilmen und die hohen Preise, die dafür bezahlt werden, sind ein untrüglicher Indikator dafür, dass die Analogphotographie ein Comeback erlebt. Dass es dabei nicht nur um eine nostalgische Bildqualität geht, sondern um eine sinnästhetische Emotionalität, zeigt die Tatsache, dass die beliebtesten Digitalkameras heute solche sind, die in ihrem Aussehen, ihren Bedienungselementen, ihren metallischen Kamerakörpern und in vielen, eigentlich zu vernachlässigenden Details (z.B. Auslösegeräusch) alten Spiegelreflexkameras seit den 70er Jahren ähneln. Letztere, nämlich analoge Spiegelreflexkameras der großen Marken, werden heute immer mehr zu begehrten Sammelobjekten. Die Wertschätzung und die Preisunterschiede zwischen den Marken ähneln - auf insgesamt niedrigem Preisniveau - sehr dem Markt für junge Auto-Oldtimer, auf dem ein 35 Jahre alter Mercedes überproportional beliebter und teurer ist als ein seltenes Prestigeobjekt der französischen Autoindustrie gleichen Jahrgangs, beispielsweise ein Citroen D 6. Der Name und die Reputation machen den Unterschied, nicht die Qualität oder Funktionalität. Bei den alten analogen Kameras schlägt Contax im Preis und der Nachfrage Canon, und Leica schlägt seit jeher sowieso alles. 
Wie bei den LPs steigt die Beliebtheit alter analoger Kameras besonders in der Generation, die ohne jede nostalgische Erinnerung an manuell zu bedienende analoge Kameras aufwuchs und heute den Reiz analoger Photographie neu entdeckt. Es geht ihr nicht so sehr um die spielerische Freude am Umgang mit den alten Apparaten, sondern vor allem um die Erfahrung mit einem nicht-digitalen Trägermedium: Film einlegen, transportieren, nur 36 Aufnahmen ohne direkte Bildkontrolle, Film herausholen, zur Entwicklung bringen, auf die Abzüge warten usw. Die Kamerahersteller haben kurz vor der massenhaften Einführung der Digitalphotographie noch analoge Kameras gebaut, die in der elektronischen Ausstattung und unkomplizierten Bedienung den späteren Digitalkameras ähneln, aber genau die oben beschriebene Erfahrung mit einem analogen Medium bieten. Diese Kameras liegen wegen des fehlenden nostalgischen Appeals noch zu ganz kleinen Preisen in den Verkaufsplattformen, werden aber in wenigen Jahren an Beliebtheit gewinnen.


                               eine unnostalgische Analogkamera der letzten Generation

Hirayama sitzt in "Perfect Days" während seiner Mittagspause in einem Park und photographiert immer wieder den gleichen Baum. Er benutzt dazu eine kleine analoge Schnappschusskamera der Marke Olympus aus dem Jahr 1991. Nicht wegen des Films, sondern bereits seit einigen Jahren ist dieses Modell heißbegehrt. Unter 150 Euro wird man sie gebraucht zur Zeit nicht bekommen. Hirayama nutzt diese Kamera so, wie die Generation der heute unter 25-jährigen es heutzutage faszinierend findet: langsam und achtsam den Bildausschnitt wählen und photographieren, den Film zum Entwickeln abgeben, warten, die Bilder abholen, sorgfältig prüfen und bewerten und schließlich archivieren. 

Nostalgie und sinnliche Erfahrung (das Fühlen des Gegenstands, das Geräusch des Filmtransports und der Verschlussauslösung, das Hören des Einrastens einer Kassette und das sanfte Knistern bei der ersten Berührung der Diamantnadel mit der LP) machen den Reiz dieser Gegenstände aus. Keine Streaming-Playlist, keine noch so perfekte Smartphone-Kamera können diesen Reiz bieten. Wir brauchen ihn nicht, aber es ist gut zu wissen, dass nicht nur digitale Medien uns erfreuen können.

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