Montag, 3. Juni 2024

Tragik und sanfte Wehmut

Es ist uns nicht versprochen, alt zu werden und sanft zu entschlafen. Der Tod kann früh, viel zu früh, jäh, unter Schmerzen, Panik und Verzweiflung eintreten. Dass es so sein kann, gehört zum kollektiven Gewissen der Menschheit. Und doch macht es uns besonders traurig und wütend, wenn wir einen amerikanischen Bürger unter dem Knie eines Polizisten sterben oder die Bilder der Opfer eines kleinen, unschuldigen Virus sehen, die in Bergamo zufällig einem versagenden Gesundheitssystem anheim fielen. Auch wenn wir diese Menschen nicht kennen, durchströmen uns Mitleid und Wut. In selteneren Fällen kennen wir die Opfer eines jähen Todes ebenfalls nicht persönlich, schätzen aber ihr Werk, erfreuen uns an dem, was sie uns hinterlassen haben und bedauern zutiefst, dass sie nicht weiter zu unserer Ergötzung und Erbauung schreiben, musizieren, schauspielern oder malen werden. In solchen Fällen ist unser Mitleid egoistisch, weil wir uns um etwas beraubt sehen, das wir in unserem eigenen Leben brauchten. Solches auf den eigenen Verlust bezogenes Mitleid kann übergehen in eine mitfühlende, liebevolle Erinnerung, die bedauert, aber den Verlust verhüllt.

Ich denke, früher sehr oft, aber auch heute noch zuweilen an zwei Todesfälle, die vor einigen Jahren geschahen und die genau dieses bei mir auslösten. Der erste Fall war so tragisch, dass er in der französischen Intellektuellenszene große Erschütterung auslöste. Die Pariser Psychoanalytikerin und Philosophin Anne Dufourmantelle, die großartige, bereichernde Bücher über das Lob des Risikos und das Geheimnis geschrieben hat, wird im Juli 2017 durch ihren Tod zur Ikone ihrer eigenen Philosophie. Als sie, selbst Mutter einer heranwachsenden Tochter, am Strand von Pampelonne an der Cote d'Azur zwei Kinder einer Freundin vor dem Ertrinken retten will, erleidet sie bei diesem Rettungsversuch einen Herzstillstand und ertrinkt. Die beiden Kinder werden von anderen Menschen gerettet. Anne Dufourmantelle hat den Mut zum Risiko wirklich gelebt. Kalidass liest seitdem ihre Bücher mit einer noch tieferen Verneigung vor der Größe dieser Autorin.


Der zweite Todesfall, der mich tief berührte, war weniger tragisch, überhaupt nicht heldenhaft, löste aber tiefes Nachdenken über die Ungerechtigkeit des Todes und unser Unwissen darüber aus. Am Morgen des 18. Februar 2018 tritt der damals 62-jährige französische Jazzgeiger Didier Lockwood vor das Haus, in dem er in Paris lebt und bricht mit einem Herzinfarkt zusammen. Sein jäher Tod ereilte ihn in einer Periode voller Schaffenskraft und neuer Projekte. Lockwood war erst wenige Jahre mit der ebenfalls sehr renommierten Barocksängerin Patricia Petibon verheiratet, und beide hatten Pläne für ein gemeinsames Album. Ich hatte einige Jahre zuvor Lockwood auf einer Bühne in Deutschland erlebt und ihn sofort auf meinen persönlichen Musiker-Olymp erhoben. Wieviel dir aber - Achtung, jetzt kommt eine Binse - wieviel dir aber also ein Mensch bedeutet, so musste ich wieder einmal lernen, wird dir oft erst nach ihrem Tod klar. Ohne Dufourmantelle oder Lockwood wirklich gekannt zu haben, lösten diese beiden Todesfälle bei mir eine lange Zeit nicht nachlassende zärtliche Wehmut aus, und es verging lange kein Tag, an dem ich nicht an die eine oder den anderen denke. Jetzt, am Beginn eines Sommers, der uns nass und kühl daherkommt, weht häufiger der elegante Ton der Jazzgeige Didier Lockwoods aus der Terrassentür in den Garten, wenn es denn warm genug ist. Dufourmantelles Bücher liegen ohnehin zu jeder Jahreszeit griffbereit.



 Dieser Post wurde zuerst im Juni 2021 an anderer Stelle veröffentlicht.

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