Mittwoch, 19. Juni 2024

Eine ganz persönliche Wiederentdeckung - John Scofield

 


Vor einer Woche weckte ich einmal wieder meine zwei Jazzgitarren aus ihrem Dornröschenschlaf, besaitete sie neu, spielte ein bisschen darauf und suchte auf einem modelling-amp nach dem idealen Sound, merkte schnell, dass meine Welt als praktizierender Musiker eine andere ist (1600 - 1880) und ging dann aber auf die Internet-Suche nach den heute angesagten Jazzgitarristen in der Hauptstadt des Jazz, NYC. 14 hochinteressante Männer und 1 Frau, Mary Halvorson, fand ich, die ich mir gewissermaßen auf den Zettel schrieb. 

Der beste Sound der Jazzgitarre?

Nach diesem tagelangem Suchen und Probieren mit verschiedenen Instrumenten und Verstärkern und hingebungsvollem Lauschen nach dem perfekten Gitarrenton der großen zeitgenössischen Gitarristen hörte ich am vergangenen Samstag spontan John Scofield (mit Zurückhaltung - Grund siehe unten -, aber auch mit gespitzten Ohren) und bin überwältigt. That’s it: stilistisch, kompositorisch, gitarristisch einfach überwältigend, dieser Mann. 



                                            John Scofield, Photo courtesy Nick Suttle (www.suttlestudio.com)

Ich war jahrzehntelang sehr skeptisch, was Scofield anging, und das rührte her von zwei Erlebnissen mit ihm. Das erste war ein Live-Auftritt des damals noch recht jungen Musikers in den 80ern im Kölner "Subway", bei dem er mit Sicherheit betrunken war und sein Set lieb- und inspirationslos herunterspulte. Das zweite war eine LP, die er mit seinem Trio für Enja aufgenommen hatte und das ich zu den wenigen Alben zählte, die ich nur einmal und nie wieder hörte, weil ich es einfach für schlecht hielt. Da werden viele ganz anderer Meinung sein. Seit diesen Erlebnissen in den 80ern war Scofield für mich in einer Vorurteils-Schublade gelandet, als ein bedauernswerter, hochbegabter Musiker, der als Alkoholiker und musikalisch auf Irrwegen befindlicher Komponist sein Potenzial leider nie voll ausschöpfte. Mein Fehler war, diesen Ausnahmegitarristen nicht mehr zu beachten und mein Vorurteil zu konservieren.


Jetzt, viele Jahre später, war ich selbst seit vielen Jahren des ewigen Skalengedaddels und sumpfigen Tons der “klassischen” Jazzgitarre (also Kessel, Montgomery, Hall und Nachfolger) überdrüssig, habe einige Jahrzehnte Karenz geübt und erst jüngst wieder als Hörer Spaß am Instrument 'Jazzgitarre' bekommen. In der Zwischenzeit habe ich natürlich immer wieder mal Jazzgitarristen gehört: Larry Carlton - stilistisch schwer einzuordnen im Jazz - packte mich in einem Liveauftritt mit seiner Virtuosität und der Versalität seiner Gibson ES-335, aber ließ mich mich seinen Kompositionen ein bisschen enttäuscht zurück, einfach zu zuckrig, zu kommerziell; Mike Stern war für mich jahrelang der einzige Jazzgitarrist, den ich in dieser Zeit richtig platziert sah; Pat Metheny war mir zu irrlichternd, zu emphatisch in vielen seiner Kompositionen; die anderen Heroen, die ich für grandios, aber für aus der Zeit gefallen hielt, waren alle aus historischen Richtung gewachsen: Bireli Lagrène, Jim Hall et al., alle bewundernswert, aber immer irgendwie, für meinen Geschmack, zu sehr zurückblickend zum Swing oder Cool Jazz. Blieben noch einige andere vom Spielfeldrand der ganz Großen: Larry Coryell, Leni Stern, Sonny Sharrock und noch andere, für die ich eine große Sympathie hatte, die aber auch aus biographischen Gründen genährt war. Wenn du nämlich einmal den jungen Sonny Sharrock live erleben durftest wie ich im Jahre 1968 (mit Herbie Mann), gibst du dem Mann jeden Kredit für jeden 'Blödsinn', den er später machte.


Die Vorurteils-Schublade öffnen


Diese Wiederentdeckung John Scofields beglückt mich, lässt mich aber mit einer Erkenntnis auch beschämt zurück: Nichts ist leichter, als Musiker in eine Schublade des persönlichen Geschmacks - zustimmend oder ablehnend - zu stecken, und nichts ist wichtiger, als diese Schubladen des persönlichen Geschmacks hin und wieder zu öffnen und zu hören, was die "Verbannten" denn so machen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Von Cassetten, LPs und analogen Kameras: Haptik und Nostalgie

Ich besitze eine umfangreiche Sammlung von Langspielplatten aus den Musikgenres Jazz und Klassik, die ich seit einigen Jahren peu à peu über...