Donnerstag, 20. Juni 2024

Von Cassetten, LPs und analogen Kameras: Haptik und Nostalgie

Ich besitze eine umfangreiche Sammlung von Langspielplatten aus den Musikgenres Jazz und Klassik, die ich seit einigen Jahren peu à peu über die üblichen Plattformen Discogs und ebay verkaufe. Analoge Kameras aus der Zeit seit den 80er Jahren bis zum Sieg der digitalen Photographie haben bei mir - in überschaubarer Anzahl - eine neue Heimat gefunden. Die Anwesenheit dieser Gegenstände schärfte meine Wahrnehmung von nostalgischen Trends. Gestern stieß ich auf einen neuen, den ich so nicht erwartet hätte.

Audio-Kassetten als Sammelgut?

Wim Wenders hat mit seinem Film "Perfect Days" 2023 einen Nerv des Publikums und der Festival-Jurys getroffen. Mit seinem Hauptdarsteller Kôji Yakusho, der den Tokioter Toilettenreiniger Hirayama verkörpert, schuf Wenders eine Ikone des armen, aber glücklichen weltlichen "Zen-Meisters" in einer schroffen, neonbeleuchteten urbanen Landschaft. Es ist viel geschrieben worden über den Film, deshalb hier filmkritisch nicht mehr darüber. Es geht hier nur um zwei Details in diesem Meisterwerk.



                               Kôji Yakusho als Hirayama in "Perfect Days" von Wim Wenders

In diesem Film gibt es eine Szene, in der der junge Kollege Hirayamas ihn in einen Laden für Gebraucht-LPs führt und ihm beweist, dass die Audio-Kassetten, die Hirayama in seinem Daihatsu-Minivan mit sich herumfährt, viel Geld wert sind. Das erstaunt Hirayama, der seine Kassetten aber nicht verkaufen will, und es erstaunte auch mich, denn inmitten all der nostalgischen Gegenstände, die ich verkaufe, ignorierte ich seit vielen Jahren völlig, dass ich noch einen Bestand bespielter Audio-Kassetten habe. 


                               Plattenladen in Tokyo

Wieso habe ich Kassetten nie als Sammelgut begriffen, und wieso bin ich andererseits sicher, dass auch analoge Kameras aus den von vielen verspotteten letzten Jahren der Produktion elektronisch "aufgepimpter" Spiegelreflexkameras in absehbarer Zeit "trendy" sein werden?


                        werden in diesem benutzten, selbst gestalteten Zustand nicht gesammelt. Wegwerfen?

Die Werte der Audio-Kassetten waren: preiswertes Speichermedium, transportabel, von eigener Hand graphisch gestaltbar, in ihren Inhalten individuell gestaltbar (Playlists) und wegen dieser Möglichkeiten der Individualisierung als Geschenke geeignet. Darüber ist auch schon viel geschrieben worden, und die Streamingdienste werden sich viele Gedanken dazu machen, wie man den Akt der Schenkung "junger Mann schenkt seiner Angebeteten eine eigens für sie erstellte Playlist" mit der gleichen Bedeutungsschwere versehen kann wie in den 70ern und 80ern die Überreichung einer liebevoll gestalteten Audio-Kassette.

Die Nachteile der Audio-Kassette waren schwerwiegend: Der Aufwand zur Erreichung einer akzeptablen Klangqualität war erheblich. Ich erinnere mich daran, dass ein Freund mit einem sehr teuren Nakamichi-Cassettendeck versuchte, die gleiche Klangqualität zu erreichen wie mit seiner Revox-Bandmaschine. Der Geldeinsatz war hoch, die Revox war unschlagbar. Der Walkman führte im Widerstreit von Beweglichkeit (überall diskret hören) und mangelnder Tonqualität wenig später dazu, dass mehrere Generationen eine Akzeptanz von begrenzter Klangqualität entwickelten. Die Mechanik von Audio-Kassetten war fragil, und das gemeinsame Auftreten von Kassetten und Bic-Kugelschreibern, die zum Aufwickeln verhaspelter Kassettenbänder benutzt wurden, war eine von der Industrie ungeplante, aber bei den Verbrauchern willkommene Symbiose. Fragile Mechanik ging zudem mit einer Haptik zusammen, die sich auf Dauer gegen einen zunehmend plastikfeindlichen Zeitgeist nicht durchhalten ließ. Erst verschwanden die Kassetten mit ihren Plastikhüllen, dann wurden CD-Hüllen aus dem gleichen Material - die sogenannten Jewel-Cases - durch Karton ersetzt. Es fehlt eigentlich nur noch eine grundlegende Änderung der sich noch unangenehmer anfühlenden DVD-Verpackungen, um vor dem Zeitgeist diese zu sehr nach den verderbten Konsumentenjahren der 80er und 90er anmutenden Relikte zu entfernen.

Pappe und Vinyl - Materialien der Nostalgie

Die wachsende Gemeinde der Liebhaber von Vinyl-Langspielplatten ist relativ jung, sehr kenntnisreich und pingelig. Wage es niemand, auf der großen Verkaufsplattform Discogs eine LP mit einer falschen Pressungsvariante anzupreisen, also etwa eine deutsche Nachpressung einer LP des amerikanischen Labels Blue Note aus den 80er Jahren als eine amerikanische Pressung der 60er in den Verkauf zu stellen. Er würde schnell entlarvt und - im mildesten Fall - ermahnt werden. Eine LP eines bekannten amerikanischen Jazzmusikers, sagen wir Miles Davis, kann es seit der Erstpressung in den 60er Jahren locker auf 50 und mehr (legale) Nachpressungen aus verschiedenen Ländern und Jahrzehnten bringen. Ein uninformierter Laie hätte Schwierigkeiten, die LP, die er zufällig in den Händen hält, als eine bestimmte Pressung zu identifizieren. Das gilt übrigens nicht nur für LPs aus der Frühzeit der 33 rpm-Scheiben, sondern auch für solche, die in den letzten Jahren vor dem Siegeszug der CD herauskamen. Eine britische Pressung einer LP der Gruppe "The Cure" ist nur durch winzige Details von einer deutschen Pressung aus dem gleichen Jahr zu unterscheiden, wechselt aber für viel mehr Geld den Besitzer. LPs werden mit der gleichen Inbrunst gesammelt wie früher Briefmarken und legen dem Besitzer und Liebhaber nicht die Bürde um den Hals, mit umweltfeindlichem Plastikmaterial zu tun zu haben, sondern mit Pappe, Papier (für Außen- und Innenhüllen) und einer Scheibe aus Polyvinylchlorid, die mit Feinfühligkeit behandelt werden will und sattschwarz glänzt wie die Lakritzschnecken von Haribo. Haptisch und in jeder Weise sinnästhetisch sind LPs eine andere Welt als Kassetten, so wie ein Alfa Romeo Spider zwar die gleiche Funktion erfüllt wie ein Daihatsu Cuore, nämlich Menschen von A nach B zu befördern, aber in seiner emotionalen Wirkung und Wertschätzung von einem anderen Stern kommt.




                               heiß begehrte Jazz-LP aus den frühen 60er Jahren

Analog und trotzdem elektronisch

Die wachsende Nachfrage nach Analogfilmen und die hohen Preise, die dafür bezahlt werden, sind ein untrüglicher Indikator dafür, dass die Analogphotographie ein Comeback erlebt. Dass es dabei nicht nur um eine nostalgische Bildqualität geht, sondern um eine sinnästhetische Emotionalität, zeigt die Tatsache, dass die beliebtesten Digitalkameras heute solche sind, die in ihrem Aussehen, ihren Bedienungselementen, ihren metallischen Kamerakörpern und in vielen, eigentlich zu vernachlässigenden Details (z.B. Auslösegeräusch) alten Spiegelreflexkameras seit den 70er Jahren ähneln. Letztere, nämlich analoge Spiegelreflexkameras der großen Marken, werden heute immer mehr zu begehrten Sammelobjekten. Die Wertschätzung und die Preisunterschiede zwischen den Marken ähneln - auf insgesamt niedrigem Preisniveau - sehr dem Markt für junge Auto-Oldtimer, auf dem ein 35 Jahre alter Mercedes überproportional beliebter und teurer ist als ein seltenes Prestigeobjekt der französischen Autoindustrie gleichen Jahrgangs, beispielsweise ein Citroen D 6. Der Name und die Reputation machen den Unterschied, nicht die Qualität oder Funktionalität. Bei den alten analogen Kameras schlägt Contax im Preis und der Nachfrage Canon, und Leica schlägt seit jeher sowieso alles. 
Wie bei den LPs steigt die Beliebtheit alter analoger Kameras besonders in der Generation, die ohne jede nostalgische Erinnerung an manuell zu bedienende analoge Kameras aufwuchs und heute den Reiz analoger Photographie neu entdeckt. Es geht ihr nicht so sehr um die spielerische Freude am Umgang mit den alten Apparaten, sondern vor allem um die Erfahrung mit einem nicht-digitalen Trägermedium: Film einlegen, transportieren, nur 36 Aufnahmen ohne direkte Bildkontrolle, Film herausholen, zur Entwicklung bringen, auf die Abzüge warten usw. Die Kamerahersteller haben kurz vor der massenhaften Einführung der Digitalphotographie noch analoge Kameras gebaut, die in der elektronischen Ausstattung und unkomplizierten Bedienung den späteren Digitalkameras ähneln, aber genau die oben beschriebene Erfahrung mit einem analogen Medium bieten. Diese Kameras liegen wegen des fehlenden nostalgischen Appeals noch zu ganz kleinen Preisen in den Verkaufsplattformen, werden aber in wenigen Jahren an Beliebtheit gewinnen.


                               eine unnostalgische Analogkamera der letzten Generation

Hirayama sitzt in "Perfect Days" während seiner Mittagspause in einem Park und photographiert immer wieder den gleichen Baum. Er benutzt dazu eine kleine analoge Schnappschusskamera der Marke Olympus aus dem Jahr 1991. Nicht wegen des Films, sondern bereits seit einigen Jahren ist dieses Modell heißbegehrt. Unter 150 Euro wird man sie gebraucht zur Zeit nicht bekommen. Hirayama nutzt diese Kamera so, wie die Generation der heute unter 25-jährigen es heutzutage faszinierend findet: langsam und achtsam den Bildausschnitt wählen und photographieren, den Film zum Entwickeln abgeben, warten, die Bilder abholen, sorgfältig prüfen und bewerten und schließlich archivieren. 

Nostalgie und sinnliche Erfahrung (das Fühlen des Gegenstands, das Geräusch des Filmtransports und der Verschlussauslösung, das Hören des Einrastens einer Kassette und das sanfte Knistern bei der ersten Berührung der Diamantnadel mit der LP) machen den Reiz dieser Gegenstände aus. Keine Streaming-Playlist, keine noch so perfekte Smartphone-Kamera können diesen Reiz bieten. Wir brauchen ihn nicht, aber es ist gut zu wissen, dass nicht nur digitale Medien uns erfreuen können.

Mittwoch, 19. Juni 2024

Eine ganz persönliche Wiederentdeckung - John Scofield

 


Vor einer Woche weckte ich einmal wieder meine zwei Jazzgitarren aus ihrem Dornröschenschlaf, besaitete sie neu, spielte ein bisschen darauf und suchte auf einem modelling-amp nach dem idealen Sound, merkte schnell, dass meine Welt als praktizierender Musiker eine andere ist (1600 - 1880) und ging dann aber auf die Internet-Suche nach den heute angesagten Jazzgitarristen in der Hauptstadt des Jazz, NYC. 14 hochinteressante Männer und 1 Frau, Mary Halvorson, fand ich, die ich mir gewissermaßen auf den Zettel schrieb. 

Der beste Sound der Jazzgitarre?

Nach diesem tagelangem Suchen und Probieren mit verschiedenen Instrumenten und Verstärkern und hingebungsvollem Lauschen nach dem perfekten Gitarrenton der großen zeitgenössischen Gitarristen hörte ich am vergangenen Samstag spontan John Scofield (mit Zurückhaltung - Grund siehe unten -, aber auch mit gespitzten Ohren) und bin überwältigt. That’s it: stilistisch, kompositorisch, gitarristisch einfach überwältigend, dieser Mann. 



                                            John Scofield, Photo courtesy Nick Suttle (www.suttlestudio.com)

Ich war jahrzehntelang sehr skeptisch, was Scofield anging, und das rührte her von zwei Erlebnissen mit ihm. Das erste war ein Live-Auftritt des damals noch recht jungen Musikers in den 80ern im Kölner "Subway", bei dem er mit Sicherheit betrunken war und sein Set lieb- und inspirationslos herunterspulte. Das zweite war eine LP, die er mit seinem Trio für Enja aufgenommen hatte und das ich zu den wenigen Alben zählte, die ich nur einmal und nie wieder hörte, weil ich es einfach für schlecht hielt. Da werden viele ganz anderer Meinung sein. Seit diesen Erlebnissen in den 80ern war Scofield für mich in einer Vorurteils-Schublade gelandet, als ein bedauernswerter, hochbegabter Musiker, der als Alkoholiker und musikalisch auf Irrwegen befindlicher Komponist sein Potenzial leider nie voll ausschöpfte. Mein Fehler war, diesen Ausnahmegitarristen nicht mehr zu beachten und mein Vorurteil zu konservieren.


Jetzt, viele Jahre später, war ich selbst seit vielen Jahren des ewigen Skalengedaddels und sumpfigen Tons der “klassischen” Jazzgitarre (also Kessel, Montgomery, Hall und Nachfolger) überdrüssig, habe einige Jahrzehnte Karenz geübt und erst jüngst wieder als Hörer Spaß am Instrument 'Jazzgitarre' bekommen. In der Zwischenzeit habe ich natürlich immer wieder mal Jazzgitarristen gehört: Larry Carlton - stilistisch schwer einzuordnen im Jazz - packte mich in einem Liveauftritt mit seiner Virtuosität und der Versalität seiner Gibson ES-335, aber ließ mich mich seinen Kompositionen ein bisschen enttäuscht zurück, einfach zu zuckrig, zu kommerziell; Mike Stern war für mich jahrelang der einzige Jazzgitarrist, den ich in dieser Zeit richtig platziert sah; Pat Metheny war mir zu irrlichternd, zu emphatisch in vielen seiner Kompositionen; die anderen Heroen, die ich für grandios, aber für aus der Zeit gefallen hielt, waren alle aus historischen Richtung gewachsen: Bireli Lagrène, Jim Hall et al., alle bewundernswert, aber immer irgendwie, für meinen Geschmack, zu sehr zurückblickend zum Swing oder Cool Jazz. Blieben noch einige andere vom Spielfeldrand der ganz Großen: Larry Coryell, Leni Stern, Sonny Sharrock und noch andere, für die ich eine große Sympathie hatte, die aber auch aus biographischen Gründen genährt war. Wenn du nämlich einmal den jungen Sonny Sharrock live erleben durftest wie ich im Jahre 1968 (mit Herbie Mann), gibst du dem Mann jeden Kredit für jeden 'Blödsinn', den er später machte.


Die Vorurteils-Schublade öffnen


Diese Wiederentdeckung John Scofields beglückt mich, lässt mich aber mit einer Erkenntnis auch beschämt zurück: Nichts ist leichter, als Musiker in eine Schublade des persönlichen Geschmacks - zustimmend oder ablehnend - zu stecken, und nichts ist wichtiger, als diese Schubladen des persönlichen Geschmacks hin und wieder zu öffnen und zu hören, was die "Verbannten" denn so machen.


Dienstag, 4. Juni 2024

Anna Besson, Juliette Hurel, Marten Root


Flöt-en,-isten und -istinnen

Kalidass hat eine Vorliebe für die französische Musikszene mit ihren vielen jungen Talenten, großen Virtuosen, formidablen Festivals und mit einem Radiosender, der immer wieder Neues entdeckt und mit einer Begeisterung präsentiert, die ansteckt: France Musique.

Zwei französische Flötistinnen habe es ihm besonders angetan, die eine, weil sie eine der besten Traverso-Spielerinnen ist, und die andere, weil sie viel für die (Wieder-)Entdeckung der französischen Flötenmusik der Frühromantik und darin vor allem von Komponistinnen getan hat.


Anna Besson ist die herausragende Traverso-Flötistin der sehr vitalen französischen Barockszene, die mit ihrem Ensemble Nevermind Meilensteine in der Interpretation und Präsentation barocker Flötensonaten geleistet hat.



Nevermind, Foto: Rita Cuggia

Hier sind die vier mit einem Concerto à quatre voix von Jean-Baptiste Quentin zu hören. Die jüngste CD von Anna Besson in anderer Besetzung widmet sich ebenfalls Corelli- und Quentin-Sonaten und hat hervorragende Kritiken bekommen.

Seit nunmehr 30 arbeitet die französische Flötistin Juliette Hurel mit ihrer Partnerin am Piano Hélène Couvert zusammen. Ihre Diskographie weist u.a. sehr hörenswerte Einspielungen von Kompositionen aus der Zeit der französischen Frühromantik und von Komponistinnen um die Wende zum XX. Jhdt. hin auf: Clemence de Grandval, Augusta Holmès, Mélanie Bonis, Cécile Cheminade und - natürlich - Lili Boulanger (die Schwester von Nadia B.). Zum 30. Geburtstag ihrer musikalischen Zusammenarbeit haben sich die beiden die großartige Cellistin Emanuelle Bertrand hinzugeholt und Werke von Weber, Schubert und Reinecke eingespielt.



Couvert links, Hurel rechts

Kalidass' Lieblingstraversoflötist aber ist Niederländer und seit vielen Jahren Miglied der Nederlandse Bachvereniging: Marten Root.


Hier ist er mit der Flötenpartita in a-moll BWV 1013 von J.S. Bach für Flöte solo zu hören.

Montag, 3. Juni 2024

Typoskripte - Tom Hanks und Paul Auster sei Dank

Warum Schreibmaschinen?

Tom Hanks, der berühmte Schauspieler, und Paul Auster, der berühmte Schriftsteller, schreiben bzw. schrieben auf mechanischen Schreibmaschinen und begründeten das sehr überzeugend. Davon zu erfahren, brachte mich auf den Gedanken, eine alte schwedische FACIT-Reiseschreibmaschine vom Dachboden zu holen, um das zu erleben, wovon Autoren immer wieder berichten, wenn sie die alten Maschinen benutzen: Das Tempo wird langsamer, Denken und Schreiben geraten in einen synchronisierten Rhythmus und die vermeintliche Perfektion des mit einem Textverarbeitungsprogramm geschriebenen Textes weicht einem rohen Entwurf, der überarbeitet und gründlich verbessert werden muss. Erst dann, wenn handschriftliche Korrekturen eingetragen, ganze Sätze gestrichen und Wörter ersetzt sind, übertrage ich den Text in eine Computerdatei. Schreibmaschinen stellen für mich das ideale Zwischenmedium zwischen handschriftlichen Notizen und der Textverarbeitung auf einem Rechner dar. 2014 begann ich, alte Schreibmaschinen zu sammeln, und konzentrierte mich dabei auf leichte Reiseschreibmaschinen der 50er- und 60er-Jahre. Jede Maschine, die bei mir eintraf, erzählt eine Geschichte. Die daro Erika auf dem folgenden Bild stammt aus der DDR, war sehr gepflegt, roch aber beim Öffnen des Koffers nach billigen Zigarren. Sofort kamen Gedanken auf: Wer mag damals auf der Maschine geschrieben und das gute Stück so pfleglich behandelt, aber intensiv genutzt haben? Ein Mann, sicherlich, kein junger Mann, ein Stumpenraucher, der intensiv tippte und dem die Maschine viel wert war. Kein Student - Stumpen sind nichts für junge Männer -, aber was schrieb der Mann mittleren oder fortgeschrittenen Alters so intensiv? Keinen Bürokram, dafür war die Maschine zu leicht und hatte keine ausgefeilte Tabulatorfunktion, aber was schrieb er dann? Subversive Texte, Lyrik, Briefe? 



Es begann mit einer alten Facit

Die alte Schreibmaschine auf dem folgenden Photo, in den 60ern entworfen vom Grafen Bernadotte und solide wie ein alter Volvo, stand jahrzehntelang in "mint condition", also praktisch wie neu, auf dem Dachboden des Elternhauses. Diese Maschine brachte mich dazu, Typoskripte mit "flash fiction" und Lyrik zu schreiben.






Typoskript "Paris", 2014, auf Facit TP1 in Pearl 12 p.

Tragik und sanfte Wehmut

Es ist uns nicht versprochen, alt zu werden und sanft zu entschlafen. Der Tod kann früh, viel zu früh, jäh, unter Schmerzen, Panik und Verzweiflung eintreten. Dass es so sein kann, gehört zum kollektiven Gewissen der Menschheit. Und doch macht es uns besonders traurig und wütend, wenn wir einen amerikanischen Bürger unter dem Knie eines Polizisten sterben oder die Bilder der Opfer eines kleinen, unschuldigen Virus sehen, die in Bergamo zufällig einem versagenden Gesundheitssystem anheim fielen. Auch wenn wir diese Menschen nicht kennen, durchströmen uns Mitleid und Wut. In selteneren Fällen kennen wir die Opfer eines jähen Todes ebenfalls nicht persönlich, schätzen aber ihr Werk, erfreuen uns an dem, was sie uns hinterlassen haben und bedauern zutiefst, dass sie nicht weiter zu unserer Ergötzung und Erbauung schreiben, musizieren, schauspielern oder malen werden. In solchen Fällen ist unser Mitleid egoistisch, weil wir uns um etwas beraubt sehen, das wir in unserem eigenen Leben brauchten. Solches auf den eigenen Verlust bezogenes Mitleid kann übergehen in eine mitfühlende, liebevolle Erinnerung, die bedauert, aber den Verlust verhüllt.

Ich denke, früher sehr oft, aber auch heute noch zuweilen an zwei Todesfälle, die vor einigen Jahren geschahen und die genau dieses bei mir auslösten. Der erste Fall war so tragisch, dass er in der französischen Intellektuellenszene große Erschütterung auslöste. Die Pariser Psychoanalytikerin und Philosophin Anne Dufourmantelle, die großartige, bereichernde Bücher über das Lob des Risikos und das Geheimnis geschrieben hat, wird im Juli 2017 durch ihren Tod zur Ikone ihrer eigenen Philosophie. Als sie, selbst Mutter einer heranwachsenden Tochter, am Strand von Pampelonne an der Cote d'Azur zwei Kinder einer Freundin vor dem Ertrinken retten will, erleidet sie bei diesem Rettungsversuch einen Herzstillstand und ertrinkt. Die beiden Kinder werden von anderen Menschen gerettet. Anne Dufourmantelle hat den Mut zum Risiko wirklich gelebt. Kalidass liest seitdem ihre Bücher mit einer noch tieferen Verneigung vor der Größe dieser Autorin.


Der zweite Todesfall, der mich tief berührte, war weniger tragisch, überhaupt nicht heldenhaft, löste aber tiefes Nachdenken über die Ungerechtigkeit des Todes und unser Unwissen darüber aus. Am Morgen des 18. Februar 2018 tritt der damals 62-jährige französische Jazzgeiger Didier Lockwood vor das Haus, in dem er in Paris lebt und bricht mit einem Herzinfarkt zusammen. Sein jäher Tod ereilte ihn in einer Periode voller Schaffenskraft und neuer Projekte. Lockwood war erst wenige Jahre mit der ebenfalls sehr renommierten Barocksängerin Patricia Petibon verheiratet, und beide hatten Pläne für ein gemeinsames Album. Ich hatte einige Jahre zuvor Lockwood auf einer Bühne in Deutschland erlebt und ihn sofort auf meinen persönlichen Musiker-Olymp erhoben. Wieviel dir aber - Achtung, jetzt kommt eine Binse - wieviel dir aber also ein Mensch bedeutet, so musste ich wieder einmal lernen, wird dir oft erst nach ihrem Tod klar. Ohne Dufourmantelle oder Lockwood wirklich gekannt zu haben, lösten diese beiden Todesfälle bei mir eine lange Zeit nicht nachlassende zärtliche Wehmut aus, und es verging lange kein Tag, an dem ich nicht an die eine oder den anderen denke. Jetzt, am Beginn eines Sommers, der uns nass und kühl daherkommt, weht häufiger der elegante Ton der Jazzgeige Didier Lockwoods aus der Terrassentür in den Garten, wenn es denn warm genug ist. Dufourmantelles Bücher liegen ohnehin zu jeder Jahreszeit griffbereit.



 Dieser Post wurde zuerst im Juni 2021 an anderer Stelle veröffentlicht.

Entspannte Haltung

Mein Profilphoto stammt aus Udaipur, aufgenommen 1991 vor dem Eingang zu einem Tempel. Mein Traum war immer schon, so entspannt durch das Leben zu gelangen, wie es diesem gentleman guardian damals möglich war.




 3. Juni 2024


Kalidass zieht heute mit seinen Anmerkungen zur Kultur von seiner Webseite um auf dieses Bloggerformat, weil ihm sein bisheriger Host unmögliche, zeitaufwändige Prozeduren zu einem angeblich erforderlichen Umzug der Webseite aufzwingt.

Um diesen neuen Blog zu beginnen, wähle ich einen kurzen Text aus, den ich vor fast zehn Jahren geschrieben habe:



Nach viel edlem, schwarz gebranntem Gin,

schwarzgebrannt, deshalb edel,

denn ich war dabei und kenne die Zutaten

Wacholder und Orangen,

nach viel, zu viel von solchem Gin

am Morgen eine Ernüchterungsfahrt

auf dem Motorrad;

beim Herausrollen aus der Garage,

ohne es zu merken, das Auto beschädigt;

erst später, wundgeritten von belgischen Straßen,

beim Heimkommen den Schaden entdeckend,

frage ich mich, ob es ein Schmiss der Ehre,

ein Tribut an den edlen Gin war, oder

doch nur: die Blamage vor der Garage


Das Motorrad hat seit kurzem einen neuen Besitzer, das Auto ist schon lange weg, der ernüchterte Verfasser lebt noch munter und wird hier seine Gedanken zur Kultur veröffentlichen.


Von Cassetten, LPs und analogen Kameras: Haptik und Nostalgie

Ich besitze eine umfangreiche Sammlung von Langspielplatten aus den Musikgenres Jazz und Klassik, die ich seit einigen Jahren peu à peu über...